Wir.Hier. magazin. 2023 Q4

Die Chemieunternehmen in Rheinland-Pfalz Gründergeist Ein Chemie-Mitarbeiter macht eine zufällige Entdeckung – und wird zum Gründer. Innovationen So wichtig sind Start-ups für die Chemie. Quereinstieg Wie eine Schmuckverkäuferin in die Chemie kam. NE US TART WAGE N, CHANCE N NUTZEN M E N S C H E N C H E M I E A R B E I T Jetzt oder nie! ISSN: 2567-2371 magazin. e i n s 2 0 2 3 Q 4

„Innovativ sein heißt, mit offenen Augen durch die Gegend gehen, nichts als gegeben hinnehmen, alles hinterfragen und hartnäckig sein“ I N G M A R B R U D E R , G R Ü N D E R D E S S T A R T - U P S T R I N A M I X Das ganze Interview auf Seite 16 J E T Z T O D E R N I E ! I M F O K U S Titelfoto: Photo and Co via Getty Images; Foto: Daniel Roth/IW Medien

Liebe Leserinnen und Leser, in der Kommunikation gilt zunehmend: „Digital First“. Daher haben wir in den vergangenen Monaten unser Online-Angebot für Sie ausgebaut. Auf unserem Portal (www.wir-hier.de) und unserem Instagram-Account (wirhier_magazin) informieren wir Sie nun mehrmals pro Woche über Trends und Wissenswertes aus der Chemieindustrie. Und für alle, die noch gerne Papier in den Händen halten: Zusätzlich bündeln wir unsere spannendsten Geschichten einmal pro Quartal in einem gedruckten Magazin, wie Sie es gerade in den Händen halten. Eine Einladung, sich ganz in Ruhe über Entwicklungen in Ihrer Branche zu informieren. Besonders beeindruckt hat mich zuletzt der Besuch bei Jutta Wolf in Montabaur. Die 50-Jährige arbeitet als Gefahrguttransportfahrerin für Ursa-Chemie. Angefangen hat sie einst in einem ganz anderen Job, nämlich als Schmuckverkäuferin. Das zeigt: Es ist nie zu spät, um in der Chemie anzufangen – und es lohnt sich, mutig zu sein. Das gilt auch für Tüftler, die auf völlig neue Ideen kommen und so die Chemieindustrie und manchmal sogar die Welt verändern. Einige Start-ups entstehen hier in Rheinland-Pfalz. Wir berichten, welche bahnbrechenden Lösungen Gründer aus unserer Region entwickeln und welche Unterstützung sie dafür brauchen. Am Ende haben wir noch eine Überraschung für Sie: Nehmen Sie an unserem Gewinnspiel teil. Der Hauptpreis: eine Smartwatch – vielleicht der Start für Ihre eigene kleine Revolution im Alltag? Und nun wünsche ich Ihnen viel Spaß mit der neuen Ausgabe von Wir. Hier.! Melden Sie sich mit Feedback und Anregungen gerne unter redaktion@wir-hier.de Zum Titelthema „Jetzt oder nie!“ – das ist ein Aufruf, Neues zu versuchen und Grenzen zu überschreiten. In dieser Ausgabe geht es um Menschen und Unternehmen, die den Sprung ins kalte Wasser wagen. Wir berichten von Quereinsteigern, die ihre Berufung fanden, und von Start-ups, die uns mit ihren Ideen voranbringen. Es geht um Inspiration für jeden: Verändere ich mein Leben? Wie? Unsere Welt ist im Wandel, wir können ihn mitgestalten. Nutzen wir die Chancen, anstatt sie zu verpassen. Jetzt oder nie! Ziel erreicht: Für erfolgreiche Neustarts braucht es Mut und Durchhaltevermögen. C H R I S T I N E H A A S ist Redaktionsleiterin von Wir. Hier. Sie besuchte für diese Ausgabe eine Quereinsteigerin und fragte den Komiker Bernhard Hoëcker, wann er zuletzt mit etwas Neuem angefangen hat. e i n s 2 0 2 3 E D I T O R I A L 3 E D I T O R I A L J E T Z T O D E R N I E ! Foto: Marcos – stock.adobe.com Foto: Photo and Co via Getty Images Foto: Florian Lang/Iw Medien

10 Inhalt 06 Zahlen, Daten, Fakten Gesichter der Chemie Erst Schmuck, jetzt Gefahrgut: Jutta Wolf kam als Quereinsteigerin zu Ursa-Chemie. Zahlen, Daten, Fakten Patente, Neugeborene, erneuerbare Energien – die Grafikseite zum Stöbern. Fokus Start-ups Warum Gründer so wichtig für die Chemie sind – und es trotzdem schwer haben. Firmen-Besuch: Trinamix Wie ein BASF-Mitarbeiter zum Gründer wurde und nun 240 Beschäftigte hat. Gründerzentren Rheinland-Pfalz hat vier Gründerzentren. Was wird dort vorangetrieben? 06 10 12 16 20 P O R T R Ä T Wofür brauchenwir Lithium? 2 2 Quereinstieg: Vom Schmuckladen in die Chemie U N S E R E T H E M E N J E T Z T O D E R N I E ! 4 J E T Z T O D E R N I E ! Foto: Henri Koskinen – stock.adobe.com Foto: Florian Lang/IW Medien Illustrationen: Oksana – stock.adobe.com

2 6 Lässt sich Ihr Handy mit einer Maske täuschen? Die Authentifizierungstechnologie des Startups Trinamix jedenfalls nicht. Gründer Ingmar Bruder erzählt von seinem Innovationsgespür. 16 Das Element Lithium: Der Rohstoff ist enorm wichtig für die Elektro-Ära. Debatte Durchstarten oder abwarten? Zwei Experten haben Rat für Unentschlossene. Arbeitswelt Tipps zum Neustart mit 50+, Beruf mit neuem Namen, Podcast-Empfehlung. 10 Fragen an ... den Komiker und Schauspieler Bernhard Hoëcker. Quiz Nehmen Sie an unserem Gewinnspiel teil. 22 24 26 30 31 V O R O R T I NNOVATI ONE N AUS LUDWI GS HAF EN Beruflich verändern mit 50+ 10 Fragen an Bernhard Hoëcker 3 0 e i n s 2 0 2 3 5 I N H A L T Foto: Comstock Images via Getty Images Foto: 7 Punkt 7 Dittmann & Ebeling GmbH/ Morris Mac Matzen/mmacm.com Foto: Daniel Roth/IW Medien

Mit dem Gabelstapler belädt Jutta Wolf den Lkw: Anfangs habe das Fahrzeug sie wahnsinnig gemacht, sagt sie. 6 J E T Z T O D E R N I E !

Erst Schmuck, jetzt Gefahrgut T E X T C H R I S T I N E H A A S F O T O S F L O R I A N L A N G JuttaWolf arbeitet als Kraftfahrerin bei Ursa-Chemie und transportiert Chemikalien. Ihre erste Ausbildung machte sie in einer ganz anderen Branche: bei einem Juwelier. Wie der Quereinstieg gelang – und warum sie heute glücklicher ist Diesmal im Fokus: Jutta Wolf von UrsaChemie in Montabaur Fässer und Kanister: Mit ihrem Lkw transportiert Jutta Wolf unterschiedliche Substanzen. e i n s 2 0 2 3 7 G E S I C H T E R D E R C H E M I E

Ringe, Ketten, Uhren, Ohrringe – früher trug Jutta Wolf jeden Tag Schmuck. Als Verkäuferin in einem Juwelierladen wusste sie immer, was gerade im Trend ist. Doch inzwischen sind größere Schmuckstücke bei der Arbeit für sie sogar verboten: Die 51-Jährige arbeitet heute als Gefahrguttransportfahrerin bei Ursa-Chemie in Montabaur. Nur ein Accessoire gehört jetzt noch zum Alltag: die Schutzbrille, die ihre Augen vor schädlichen Substanzen schützt. „Die Schmuckzeit war schön, aber tauschen würde ich nie mehr“, sagt Wolf. „Das hier ist meins.“ Die Geschichte von Jutta Wolf zeigt, wie sehr es sich lohnen kann, ganz neu anzufangen. Dass Quereinstiege gelingen können, auch wenn man eine Familie hat und vorher etwas ganz anderes gemacht hat. Fast 20 Jahre ist es her, dass Wolf bei Ursa begann. Als Verkäuferin konnte sie damals nicht weitermachen. Ihr alter Arbeitgeber machte zu, bei anderen Geschäften hätte sie nur ganze Tage arbeiten können – nicht kompatibel mit ihren beiden kleinen Kindern. „Bewirb dich doch bei uns“, riet ihr Schwager, der bereits für Ursa arbeitete. Mit 40 in die Fahrschule Und tatsächlich bewarb Wolf sich, überzeugte die Geschäftsführung, fing als Chemiearbeiterin bei Ursa an und arbeitete sich schnell hoch. Vom Minijob wechselte sie in Teilzeit, von Teilzeit in Vollzeit. Anfangs erledigte sie einfache Aufgaben, füllte Farbstoffe in Beutel ab und klebte Etiketten auf Kanister. Doch dann kam der Tag, an dem sie die interne Ausschreibung entdeckte: Lkw-Fahrer gesucht. „Da wollte ich mich sofort bewerben. Ich fahre gerne“, sagt Wolf. Zweifel kamen ihr, als sie von der Größe des Fahrzeugs erfuhr: Statt eines 7,5-Tonners, für den ihr Autoführerschein gereicht hätte, wurde ein 12,5-Tonner angeschafft. „Das war mir eigentlich viel zu groß. Aber ich hatte mich schon beworben, und so bin ich dann mit 40 noch mal in der Fahrschule gelandet“, erzählt sie. Sie machte die Prüfung zur Berufskraftfahrerin, der Arbeitgeber übernahm die Kosten. Zu einem solchen Quereinstieg gehört natürlich, sich neues Wissen anzueignen. Für die Theorieprüfung in der Fahrschule musste Wolf viel über Bremstechnik, Ruhezeiten und Überholmanöver lernen. „Lange zuhören, auswendig lernen – das kannte ich nach so langer Zeit im Arbeitsleben gar nicht mehr“, sagt Wolf. Doch es hat sich gelohnt: Sie bestand mit null Fehlern. Auch den Gefahrgut-Schein erwarb sie. Der ist nötig, um gefährliche Güter auf der Straße transportieren zu dürfen. Es flossen auch Tränen Nun ist Wolf dafür zuständig, Güter zwischen Produktionshalle und Logistikzentrum hin und her zu transportieren. Ursa stellt für andere Unternehmen Chemikalien nach Rezept her und verschickt sie in die ganze Welt. Wolf entscheidet, welche Produkte sie in welcher Reihenfolge transportiert. Sie prüft, ob die Fässer, Kanister oder 1000-Liter-Container dicht sind. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn enthalten sind oft ätzende oder giftige Substanzen. Sie setzt sich auf den J U T T A W O L F „Die Schmuckzeit war schön, aber tauschen würde ich nie mehr. Das hier ist meins“ Über Ursa-Chemie Ursa-Chemie wurde 1970 gegründet, hat seinen Sitz in Montabaur und beschäftigt rund 70 Menschen. Das Unternehmen bezeichnet sich als „Lohnhersteller für Chemie“. Das heißt: Es fertigt chemische Rohstoffe sowie Zwischen- und Endprodukte für Kunden aus unterschiedlichen Teilen der Industrie und des Handels. Dazu zählen zum Beispiel Kosmetik-Hersteller und Chemie-Unternehmen. Pro Jahr fertigt Ursa über 800 verschiedenen Produkte aus über 2.200 Rohstoffen. 8 J E T Z T O D E R N I E ! Q U E R E I N S T I E G

Q U E R E I N S T E I G E R G E S U C H T Gabelstapler und befördert eine Ladung nach der anderen in den Lkw. Mit dem fährt sie dann mehrmals am Tag hin und her. „Das macht riesigen Spaß“, sagt Wolf. Es gab aber auch Hürden für die Quereinsteigerin. „Der Stapler hat mich wahnsinnig gemacht“, erzählt Wolf. Am Anfang habe sie viele Kollisionen mit dem Stapler verursacht, unter anderem mit einem Rolltor. Dass Ähnliches auch erfahrenen Kollegen noch passiert und niemand ihr das übel nahm, beruhigte sie kaum. „Es sind schon Tränen geflossen“, sagt sie. Sie setze sich selbst immer sehr unter Druck, alles richtig zu machen. „Geduldig sein ist für mich ganz schwierig. Ich möchte am liebsten alles sofort können.“ Was ihr bis heute hilft, ist, dass die Kollegen sie immer unterstützen. „In der Firma bekommt man immer den Rücken gestärkt.“ Kollegen schätzen ihre Gewissenhaftigkeit Ob der neue Job noch etwas mit dem alten beim Juwelier gemein hat? Nicht viel, findet Wolf, schließlich hat sie die Wärme des Schmuckladens gegen einen Job getauscht, bei dem sie auch bei Regen und Kälte draußen arbeitet. „Das macht mir aber gar nichts, ich habe ja eine Jacke“, sagt sie und lacht. Einzig der Kontakt zu vielen unterschiedlichen Menschen ist geblieben. Früher handelte es sich meist um Kunden, heute trifft sie vor allem die Kollegen aus den unterschiedlichen Bereichen – vom Chemikanten bis zum Logistiker. Bei ihnen wird sie für ihre Akribie geschätzt, und schon mal liebevoll damit geneckt, „übergewissenhaft“ zu sein. Die gute Beziehung zu vielen ihrer Kollegen ist ein wichtiger Grund, warum sie so froh ist, den Umstieg gewagt zu haben. Auch privat probiert sie immer wieder Neues. Ihr Hobby ist Walken, einmal im Jahr läuft sie inzwischen sogar einen Halbmarathon. Selbst eine Alpenüberquerung über den Wanderweg E 5 hat sie gemacht. Und kürzlich hat sie geheiratet. Einen Ring trägt sie seitdem auch wieder – zumindest nach der Arbeit. G E B H A R D L I N S C H E I D , T E C H N I S C H E R L E I T E R B E I U R S A - C H E M I E , Ü B E R E I N - S T I E G S M Ö G L I C H K E I T E N F Ü R Q U E R E I N S T E I G E R „Am hilfreichsten sind für uns Bäcker, Köche undMetzger“ „Wenn Du Dich für die Chemiebranche interessierst und aus einem anderen Beruf kommst, bist Du bei uns genau richtig“ – so wirbt UrsaChemie auf seiner Karriereseite um Quereinsteiger. Für das Unternehmen ist das eine wichtige Möglichkeit, um angesichts des Fachkräftemangels genügend Personal zu finden. „Am hilfreichsten sind für uns Bäcker, Köche und Metzger“, sagt Gebhard Linscheid, der als technischer Leiter auch für die Ausbildung der Quereinsteiger zuständig ist. Denn: So wie diese Fachkräfte verschiedene Zutaten vermengen, mische man auch bei Ursa unterschiedliche Komponenten und arbeite mit Rezepturen. Nur die Materialien seien unterschiedlich. Infrage kommt für Wechselwillige zum Beispiel der Beruf des Chemikanten: Dieser stellt aus Rohstoffen chemische Produkte her – etwa chemische Produkte für die Automobilindustrie oder Zusatzmittel für Zementmischwerke. Wer sich dafür entscheidet, muss allerdings eine Ausbildung machen. Denn der Beruf ist mit viel Verantwortung verbunden und erfordert Wissen über Chemikalien, Verfahrenstechnik, Arbeits- und Umweltschutz und Maschinen. Möglich für Quereinsteiger bei Ursa ist, die Ausbildungsdauer von dreieinhalb auf zwei Jahre zu reduzieren. Erst kürzlich hat sich ein ehemaliger Restaurantfachmann für den Quereinstieg bei Ursa entschieden: Der 36-Jährige hat seine Ausbildung im August begonnen. Eine andere Möglichkeit ist, ohne Ausbildung als Chemiearbeiter einzusteigen. Zu den möglichen Aufgaben kann dann anfangs zum Beispiel gehören, chemische Produkte abzufüllen oder Kanister zu bekleben. Vorteil bei beiden Wegen in den Betrieb: Die Beschäftigten profitieren von den Vorzügen des Tarifvertrags. Dazu zählen neben regelmäßigen Gehaltssteigerungen auch eine Altersvorsorge, Urlaubsgeld und die 37,5-Stundenwoche. Und die Aufstiegsschancen sind sehr gut. „Man hat viele Möglichkeiten, sich hochzuarbeiten“, sagt Linscheid. So übernimmt das Unternehmen die Kosten, wenn ein Mitarbeiter sich für eine andere Aufgabe weiterbildet. Der Co-Chef des Unternehmens ist übrigens das beste Beispiel dafür, wie erfolgreich der interne Aufstieg sein kann. Andreas Möller begann vor mehr als 20 Jahren als Auszubildender im Betrieb. Heute ist er einer von zwei Geschäftsführern und verantwortlich für die rund 70 Mitarbeiter des Betriebs. e i n s 2 0 2 3 9 G E S I C H T E R D E R C H E M I E

0 1 171,7 120,5 95,7 80,0 47,5 24,1 1972 1982 1992 2002 2012 2022 0 2 Energie bis Patente: So kommt unser Land voran Aufbruch, Umbruch, Abenteuer: Immer wenn sich etwas verändert, sind Zahlen sehr gefragt. Diese Auswahl zeigt, wie es in wichtigen Bereichen in Rheinland-Pfalz vorangeht Neustart ins Leben Kleine Erdenbürger erobern dieWelt 36.731 Babys kamen 2022 in Rheinland-Pfalz zur Welt – davon rund 1.300 als Zwillinge oder Mehrlingsgeburten. Insgesamt leben hier gut 670.000 Kinder: 345.000 Jungen und 325.000 Mädchen bis 18 Jahre (Stand 2020). Generell ist die Tendenz zum Kinderkriegen im Land leicht rückläufig: Vor gut 30 Jahren erblickten bei uns noch 42.722 Kinder das Licht der Welt. Diese Entwicklung erkennt man aber auch bundesweit. So gab es in Deustchland im vergangenen Jahr rund 739.000 Geburten. 1992 waren es noch 809.000. Quelle: Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz DieWirtschaft wächst Das Land behauptet sich trotz schwieriger Umstände Neustarts und Veränderungen kosten Geld. Gut zu wissen, dass die rheinland-pfälzische Wirtschaft auf Expansionskurs liegt – trotz des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine und der hohen Energiepreise. Das zeigt das Bruttoinlandsprodukt: 2022 belief es sich auf rund 171,7 Milliarden Euro – Rekord! Größte Treiber sind die Pharmaindustrie sowie die Metallerzeugung- und -bearbeitung. Deutschlandweit liegt unser Bundesland damit auf Rang sieben. Die Spitzenplätze belegen Nordrhein-Westfalen (793,8 Milliarden), Bayern (716,8 Milliarden) und Baden-Württemberg (572,8 Milliarden). T E X T S A B I N E L A T O R R E 36.731 Babys kamen 2022 in Rheinland-Pfalz zur Welt G E B U R T E N Bruttoinlandsprodukt Rheinland-Pfalz 1972 bis 2022 (nominal, in Milliarden Euro) Quelle: Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz J E T Z T O D E R N I E ! H Ä T T E N S I E ’ S G E W U S S T ? 10 Illustration: Oksana – stock.adobe.com Illustration: Oksana – stock.adobe.com

0 5 0 4 0 3 Wind Photovoltaik Biomasse Wasser Fossile Energien 31 5 10 49 5 P A T E N T E Herzlich willkommen Bundesweit gibt es mehr Zu- als Auswanderer Wer in einem anderen Land einen Neustart wagen will, wandert aus: Im Jahr 2022 waren es bundesweit 268.167 Deutsche, die ihrem Heimatland den Rücken kehrten. Allerdings ist der Zustrom an Menschen, die in Deutschland eine neue Heimat finden möchten, sehr viel größer: 2022 lag die Zahl der Zuwanderer bundesweit bei rund 2,7 Millionen. Interessant: 2020 betrug der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Rheinland-Pfalz 27,4 Prozent. Die Hauptherkunftsstaaten sind die Türkei, Polen und Syrien. Öko-Strom auf einem gutenWeg Mehr als die Hälfte des heimischen Stroms stammt aus erneuerbaren Energien Die Energieversorgung in Rheinland-Pfalz wird zunehmend regenerativer: Mehr als die Hälfte des Stroms (51 Prozent) stammt aus erneuerbaren Energien. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 waren es erst 27 Prozent. 2021 erzeugte RheinlandPfalz rund 21,5 Milliarden Kilowattstunden (kWh) ÖkoStrom aus Wind, Wasser und Sonne. Das Land will bis 2030 seinen Stromverbrauch zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien decken und die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 55 Prozent senken. Patente made in Rheinland-Pfalz Kluge Tüftler bringen das Land voran Hier wird Neuland beschritten: Satte 804 Patentanmeldungen gab es 2022 in Rheinland-Pfalz. Eine respektable Leistung. Im bundesweiten Vergleich ist das Rang 6. Im Jahr zuvor waren es sogar 854. Die meisten Patente gab es für die Segmente Transport (76 Anmeldungen), Lebensmittelchemie (74 Anmeldungen) sowie Maschinenelemente (62 Anmeldungen). Die Erfindungshochburgen in Deutschland sind BadenWürttemberg (13.444 Anmeldungen), gefolgt von Bayern (10.548 Anmeldungen) und Nordrhein-Westfalen (5.292 Anmeldungen). Insgesamt wurden letztes Jahr rund 57.200 Patente beim Deutschen Patent- und Markenamt registriert. Eine der Firmen, die weltweit mit die meisten Patente angemeldet hat, ist in Rheinland-Pfalz beheimatet: Der Chemiekonzern BASF (gesamt 11.255 Patente, davon gut 1.000 im letzten Jahr). 804 Patentanmeldungen gab es 2022 in Rheinland-Pfalz Quelle: Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz Quelle: Statistisches Bundesamt Quellen: Deutsches Patent- und Markenamt, Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz Anzahl der Zuwanderer nach Deutschland von 1991 bis 2022 1991 500.000 1.000.000 1.500.000 2.000.000 2.500.000 3.000.000 1995 1999 2003 2007 2011 2015 2019 2022 Z A H L E N , D A T E N , F A K T E N Unser Energiemix Anteil an der Bruttostromerzeugung, in Prozent 11 Illustration: Oksana – stock.adobe.com

Mehr Start-ups braucht die Chemie Hightech vom Start-up: Mitarbeiter von Ineratec fertigen E-Fuel-Anlagen für einen Pilotbetrieb in Frankfurt. Stellt nachhaltigen Treibstoff her: Tim Böltken, Chef des Start-ups Ineratec. T E X T H A N S J O A C H I M W O L T E R 12 G R Ü N D E R J E T Z T O D E R N I E ! Foto: Ineratec Foto: picture alliance/Marijan Murat

10 20 30 40 2009 2007 2015 2013 2010 2017 2011 2008 2016 2014 2012 2019 2020 2021 2018 Wenige Chemie-Gründer Zahl der jährlich neu gegründeten Start-ups in Deutschland Quelle: ZEW Schützender Piks: Der CoronaImpfstoff von Biontech wurde sehnsüchtig erwartet. Der Corona-Impfstoff – selten wurde eine Medizin so sehnsüchtig erwartet. Die Spritze gegen die Pandemie. Der Piks, der Leben, Freude und Bewegungsfreiheit zurückbrachte. Die Welt verdankt ihn unter anderem der jungen Mainzer Firma Biontech. Die Mediziner Uğur Şahin, Özlem Türeci und ihre Teams entwickelten das lebensrettende Präparat in Rekordzeit. Das Besondere an ihrem Impfstoff: Er funktioniert nach einem neuartigen Wirkmechanismus. Biontech ist ein Paradebeispiel dafür, wie aus einem Start-up aus der Chemie- und Pharmaindustrie ein großes Unternehmen werden kann, das die Welt verändert. Wie es viele Start-ups tun: mit Produkten, die deutlich besser, einfacher oder schneller sind als herkömmliche, sowie neuen, disruptiven Geschäftsideen – von Online-Handel, Lieferdiensten, Musik-Streaming bis zu digitalen Währungen. Startups setzen solche Innovationen eher in die Welt, weil sie klein, schnell, agil sind, nicht durch Verwaltung gebremst werden und auf Altbewährtes nicht viel Rücksicht nehmen müssen. Deshalb sind Start-ups auch für die Chemieindustrie wichtig, erklärt Projektleiter Christian Rammer vom Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW in Mannheim. Er hat im vergangenen Jahr eine Studie zur Bedeutung von Start-ups in der Branche erstellt. „Gründerfirmen tragen dazu bei, dass Altes Platz macht und Neues eine Chance bekommt“, sagt Rammer. Das gilt auch für grüne Lösungen. „Startups entwickeln nachhaltige Chemie, klimaschonende Produkte oder Verfahren für die Energiewende. Bei 36 Prozent der Start-ups gehört das zum Geschäftsmodell.“ Ein weiteres Fünftel bietet einzelne Produkte oder Dienstleistungen dafür an. Kurz: Gründerfirmen entwickeln oft das, was die Branche für die klimaneutrale Produktion braucht. So stellt etwa das Karlsruher Unternehmen Ineratec nachhaltigen Treibstoff aus dem Klimagas CO2 und grünem Wasserstoff her. Das passiert in containergroßen Anlagenmodulen. Ab 2024 soll ein Großbetrieb in Frankfurt jährlich 2.500 Tonnen erzeugen, kündigt Firmenchef Tim Böltken an: „Diese Pionieranlage ist ein Meilenstein für den E-Fuel.“ 25 bis 30 Gründungen pro Jahr Innovationen beschleunigen will das Mainzer Start-up IpOcean. „Um bei der Geschäftsanbahnung oder bei Kollaborationen Geschäftsgeheimnisse, geistiges Eigentum sowie Ideen in Echtzeit zu schützen, bieten wir eine Interaktions-Plattform mit Blockchain im Hintergrund“, erklärt Gründer Holger Geissler. Entwickelt wurde die Plattform zusammen mit renommierten Unternehmen. Der Pharmakonzern Merck und die Chemikergesellschaft GDCh haben sie schon eingesetzt. Ineratech und IpOcean sind zwei von mehr als 350 Chemie-Start-ups hierzulande. Dazu zählen laut Start-upDatenbank zum Beispiel auch die Ludwigshafener Firmen Schäfer Additivsysteme, ein Hersteller von Zusatzstoffen, sowie der Spezialist für Hochleistungskeramik Xeram. Jedes Jahr entstehen laut der ZEWStudie 25 bis 30 weitere Gründerfirmen in Gründerfirmen entwickeln Innovationen wie klimafreundlichen Treibstoff oder lebensrettende Impfstoffe. Doch sie brauchen mehr Unterstützung 13 F O K U S S T A R T - U P S Foto: picture alliance/Sebastian Gollnow

I N T E R V I E W der Branche. Gemessen an den im ersten Halbjahr 1.300 Neugründungen in allen Sparten ist das aber extrem wenig. Warum ist das so? Welche Probleme bremsen die Chemiegründer? Chemie-Start-ups haben oft einen viel längeren Weg zum Erfolg als etwa IT-Firmen. Gründer wie Bill Gates oder Steve Jobs, die einst am Rechner in der Studentenbude oder einer Garage mit einer neuen Software oder App loslegten, konnten rasch mit ihren Erfindungen auf den Markt. Gründer in der Chemie dagegen müssen neue Chemikalien und Produkte registrieren lassen, ein Herstellungsverfahren entwickeln, dafür Anlagen bauen und behördlich genehmigen lassen, berichtet Denise Schütz-Kurz, Referentin für Innovation beim Verband der Chemischen Industrie (VCI). „Das alles kann zehn Jahre oder mehr dauern und erfordert enorm viel Kapital.“ Viele Geldgeber im Start-up-Geschäft aber möchten möglichst rasch Rendite erwirtschaften. Daher meiden sie junge Chemiefirmen. Das zeigt sich auch in Zahlen: Von den Investitionen der Jahre 2019 bis 2021 flossen laut der ZEW-Studie satte 4,3 Milliarden Euro an Gründerfirmen in Informations- und Kommunikationstechnik. Chemie- und Material-Erfinder sammelten nur magere 14 Millionen Euro ein. Experte Rammer: „Zwei Drittel der Chemie-Start-ups fehlen Finanzierungsmittel.“ Das bremst sie enorm. VCI fordert industriepolitischen Neustart Geldspritzen holen sich die Firmen deshalb vielfach über Förderprogramme von Bund, Ländern oder der EU. Die Firma CompActive in Neustadt an der Weinstraße etwa entwickelt, gefördert vom Bundesforschungsministerium, für die Autoindustrie raumsparende Lüftungsklappen. Mit Kapital beteiligen sich auch Fonds, private Investoren („Business Angels“) sowie Mäzene wie beispielsweise der SAP-Mitgründer und Fußballförderer „Gründerfirmen tragen dazu bei, dass Neues eine Chance bekommt“ Jedes Teammuss in die Pitch-Arena Mit der Chemovator GmbH unterstützt der Chemiekonzern BASF angehende Gründer aus den eigenen Reihen. Der Geschäftsinkubator ist seit fünf Jahren aktiv und will sich nun für Gründer außerhalb des Konzerns öffnen. Er ist eine BASFTochter, hat neun Mitarbeiter und einen Bürobau in Mannheim. Wie Startups von ihm profitieren, erklärt Geschäftsführer Markus Bold. Herr Bold, wieso brauchen Gründer aus der BASF am Anfang ein schützendes Umfeld? Die kreativen Köpfe kommen aus dem Labor, der Anlage oder der ITAbteilung. Dann haben sie eine Geschäftsidee. Die ist oft sehr risikobehaftet und passt nicht ins Kerngeschäft der BASF. Die Mitarbeiter sind aber noch keine Unternehmer. Wir bieten ihnen in der Frühphase ein geschütztes Umfeld, in dem sie ihre Idee auf Herz und Nieren testen können. Und wir helfen mit Know-how. Kann da jeder kommen? Oder gibt es eine Auswahl? Alle BASF-Mitarbeiter können antreten. Am Anfang gibt es immer einen Pitch. In unserer Pitch-Arena muss jedes gründungswillige Team seine Idee in zehn Minuten vorstellen. Dann muss es sie gegen die bohrenden Fragen einer Jury 20 bis 30 Minuten verteidigen. Wer überzeugt, den nehmen wir auf. Bisher war das bei 30 von 300 Teams der Fall. Dann geht die Arbeit los? Genau. Das Gründerteam entwickelt mit unserer Unterstützung die Idee Schritt für Schritt weiter. Welche Experten braucht man noch? Wer sind die möglichen Kunden? Wie sieht das Marketing aus? Wöchentlich gibt es Besprechungen mit erfahrenen Start-up-Unternehmern zu allen wichtigen Aspekten: wie man einen Vertrag aufsetzt, einen Geschäftsplan macht, die Firma organisiert, Prozesse validiert oder welche Gesetze zu beachten sind. Und wie sieht die Bilanz nach fünf Jahren aus? Bisher haben wir 30 Teams aufgenommen. Fünf Unternehmen haben wir ausgegründet, drei agieren jetzt innerhalb der BASF und acht Teams durchlaufen gerade unser Förderprogramm. Bei den restlichen Teams hat es nicht geklappt, etwa weil das Team nicht funktioniert hat oder es keinen Markt für das Produkt gab. Nennen Sie mal zwei erfolgreiche Teams. Nehmen wir das Start-up Corbiota. Das liefert Würmer für die Hühnerzucht. Dieses Futter sorgt für eine gesündere Darmflora bei den Tieren, sie brauchen weniger Antibiotika. 2022 ausgegründet baut Corbiota jetzt die Vertriebsteams aus. Und die Firma Replique bietet einen 3-D-Druck-Service für Ersatzteile an, etwa für Mähdrescher. 80 zertifizierte Produktionspartner weltweit drucken die Teile und schicken sie rasch zum Kunden. Replique druckt für Unternehmen wie Alstom, Miele oder Siena Garden. Sie wollen jetzt auch externe Teams aufnehmen. Genau. Aktuell steht die Chemieindustrie vor gewaltigen Herausforderungen: Umbau zur klimaschonenden Produktion, Digitalisierung, Kreislaufwirtschaft. Da braucht es Innovationen. Als Inkubator für alle Ideen aus der Chemie können wir viel bewegen. M A R K U S B O L D C H R I S T I A N R A M M E R , P R O J E K T L E I T E R B E I M W I R T S C H A F T S F O R S C H U N G S - I N S T I T U T Z E W 14 J E T Z T O D E R N I E ! G R Ü N D E R Foto: Chemovator GmbH

Dietmar Hopp. Wichtigste Geldquelle der Gründer sind meist die Eigenmittel. Im Klartext: Die Start-ups generieren Umsatz, um Geld für ihr Projekt einzunehmen. Wie etwa die Firma Bio-Gram Diagnostics in Worms. Das Start-up hat sich auf vollautomatisierte und nachhaltige Färbesysteme für Blutausstriche und Mikroorganismen spezialisiert. Als kurz nach der Gründung Corona übers Land brach, entwickelten die Gründer einen einfacheren Schnelltest und verkauften die Sets. Zugleich trieben sie die Entwicklung ihrer Diagnostik-Produkte voran. Dieses Jahr sollen die ersten 400 Färbeausstrichsysteme in den Handel gehen. Laboratorien können damit Krankheiten und Bakterien diagnostizieren. Aber klar ist auch: Viele andere Gründer sind auf Geld von außen angewiesen. Wie lässt sich die Förderung verbessern? „Die Gründer brauchen Fonds und Förderprogramme, die geduldig und langfristig Kapital bereitstellen“, fordert VCI-Expertin Schütz-Kurz. Mit dem Zukunftsfonds habe die Bundesregierung erste Schritte in diese Richtung getan, aber manches sei noch zu verbessern. „Nötig sind weniger Hürden bei den Anträgen und schnellere Bewilligungen“, sagt sie. „Und wir brauchen Bürokratie-Abbau.“ Planungs- und Genehmigungsverfahren müssten gerade auch für Start-ups, die nicht die Manpower wie Konzerne haben, vereinfacht werden und schneller gehen. „Jahrelange Verfahren können für Gründerfirmen das Aus bedeuten.“ Angesichts der enormen Reglementierung fordert der Branchenverband einen „industriepolitischen Neustart“ für ein wettbewerbsfähiges Europa. Stattdessen entwickelt die EU neue Vorgaben für sichere und nachhaltige Innovationen. Bestimmte Stoffe aus dem Baukasten der Chemiker kommen dabei generell unter Verdikt, auch wenn sie zum Herstellen nachhaltiger Innovationen nötig sind. Das bringe Probleme für die Unternehmen, warnt Schütz-Kurz: „Da sind Forschungsfreiheit und Technologieoffenheit in Gefahr.“ Beide sind Voraussetzung, um Ideen für die Zukunft voranzutreiben. Und natürlich Start-ups – am besten möglichst viele. D E N I S E S C H Ü T Z - K U R Z , V C I - E X P E R T I N „Die Gründer brauchen Fonds und Förderprogramme, die geduldig und langfristig Kapital bereitstellen“ Hier gibt es Tipps für Gründer Erste Adresse für Gründer in der Chemie ist das „Forum Startup Chemie“. Es greift den Start-ups mit Know-how, Kontakten und Experten unter die Arme. Entstanden ist das Forum (forumstartup-chemie.de) 2018 durch eine Initiative des Verbands der Chemischen Industrie, des Technikverbands Dechema, der Gesellschaft Deutscher Chemiker sowie weiterer Organisationen. Und das bietet das Forum: Eine Start-up-Datenbank. Eine Online-Datenbank listet aktuell 362 Chemie-Start-ups hierzulande mit Sitz, Geschäftsmodell, Produkten und Internet-Adresse auf. So werden sie für potenzielle Kunden, Geschäfts- und Kooperationspartner in der Branche sichtbar. Suchen lassen sich die Firmen nach Zielmärkten, Produkten und Technologien. Wichtige Kontakte. Auf der Webseite des Forums finden Gründer Angaben und Links zu Innovationszentren, Einrichtungen zur Gründungshilfe (sogenannten Inkubatoren) sowie zur Wachstumshilfe (Acceleratoren). Auch zu Förderprogrammen und Investoren ist sie verlinkt. Hilfe bei der Vernetzung. Vernetzung und Kontakte sind das A und O für Gründer. Mit Veranstaltungen, über Webinare oder via Geschäftsstelle vernetzt das Team des Forums Gründungswillige mit Experten, Unterstützern oder Geldgebern. „ F O R U M S T A R T U P C H E M I E “ Fertigung bei Biontech: Ein Mitarbeiter stellt Krebsmedizin für klinische Tests her. 15 F O K U S S T A R T - U P S Foto: Thomas L. Fischer Photographie für Biontech SE

T E X T E L K E B I E B E R F O T O S D A N I E L R O T H I NNOVATI ONE N AUS LUDWI GS HAF E N Erfinder per Zufall Gründer Ingmar Bruder: Die Gesichtsauthentifizierung von Trinamix lässt sich nicht durch Masken täuschen und macht Smartphones sicherer. 16 I N N O V A T I O N E N J E T Z T O D E R N I E !

Der BASF-Physiker Ingmar Bruder entwickelte aus einer kleinen Auffälligkeit eine neue Geschäftsidee. Heute hat das Start-up Trinamix 240 Beschäftigte I N G M A R B R U D E R , G E S C H Ä F T S F Ü H R E R V O N T R I N A M I X „Innovation? Die brutale Wahrheit ist, dass sie sehr wahrscheinlich nicht funktioniert. Oder niemand sie haben will. Darum schaffen es von 100 Start-ups statistisch nur drei. Wir haben gute Chancen, eins davon zu sein“ Mobile Geräte von Trinamix: Sie sind handlich, robust und funktionieren mit smarter Software. Es war ein ganz normaler Arbeitstag, als Ingmar Bruder in seinem Labor eine Besonderheit feststellte. Der Physiker leitete damals, 2009, ein Laborteam bei der BASF und befasste sich mit organischen Solarzellen. Klassische Solarzellen aus Silizium produzieren Strom auf eine für sie typische Weise, wenn sie mit Licht in Kontakt kommen. Doch die neuen Zellen, die er vermaß, reagierten anders. Bruder war überrascht. Zwei Jahre lang erforschte er, was dahintersteckt. Die Lösung: Die Stromproduktion von organischen Solarzellen hängt, vereinfacht gesagt, vom Abstand der Lichtquelle und von der Bündelung des Lichts ab, das auf sie trifft. Ingmar Bruders Idee: Diese Reaktion organischen Materials auf Licht lässt sich nutzen, um Abstände zu messen. Damit tat er im Chemiekonzern den ersten Schritt zu einer Elektronik-­ Innovation. Von der Entdeckung bis zur tragfähigen Geschäftsidee war es indes ein langer Weg. Trinamix heißt das Start-up, das Bruder 2015 gründete. Es ist eine 100-prozentige BASF-Tochter. Trinamix hat inzwischen 550 Patente und Patentanmeldungen zustande gebracht. 240 Menschen aus 25 Ländern arbeiten für das Start-up. „Trinamix – das sind die Menschen und ihre Ideen“, sagt Bruder. Die BASF unterstützt ihn bis heute dabei, Produkte zu erfinden, zu fertigen und zu verkaufen. In puncto Kundenkontakt und Patentschutz arbeiten der Konzern und Trinamix ebenfalls zusammen. Mini-Sensoren und smarte Software sind der Clou der Produkte Trinamix hat zwei ganz unterschiedliche Geschäfte entwickelt: Aus der ersten Idee der Abstandsmessung wurde eine neue Methode zur Gesichtsauthentifizierung. Hier kommen keine Solarzellen mehr zum Einsatz, sondern handelsübliche Bildsensoren. Die Kombination mit der smarten Trinamix-Software ergibt dabei eine Reihe von Vorteilen: eine sichere, userfreundliche Gesichtserkennung, die sich auch durch lebensechte Masken nicht täuschen lässt, sowie ein diskretes Design – die Hardware wird unsichtbar hinter dem Handydisplay verbaut. Das zweite Geschäft entstand, als sich Trinamix auf der Suche nach Infrarotchips kurzerhand entschloss, diese selbst zu entwickeln. Denn Sensoren mit den gewünschten Features gab es bislang nicht. Auf Basis dieser Sensoren bietet Trinamix heute mobile Spektroskopielösungen an: handliche, robuste Geräte, die im Nu Materialzusammensetzungen erkennen. Der Softwarekern für dieses Geschäft besteht aus Referenzmodellen, die in einer e i n s 2 0 2 3 17 F I R M E N - B E S U C H : T R I N A M I X

App und Cloud hinterlegt sind. So lassen sich die Eigenschaften von gemessenen Objekten identifizieren. Softwareprofis und Elektroingenieure machen heute das Gros der Belegschaft aus. Wie die Trinamix-Spezialistenteams neue Anwendungen vorantreiben, zeigen drei Beispiele: Optimaler Futtermix: Nutztiere sollen das bestmögliche Futter zum günstigen Preis erhalten. Je nach Haltungszweck wie Mast oder Milchproduktion und je nach Rohstoffpreis wechseln die Rationen häufig. Labore prüfen die Einzelkomponenten, und Landwirte erhalten das Resultat dann Tage nach der Fütterung. Mit der mobilen Trinamix-Infrarotspektroskopie (siehe Kasten) kommt stattdessen das Labor zum Futter: Per Tastendruck bestimmen die Berater oder Landwirte auf dem Hof selbst die Futterbestandteile, zum Beispiel den Trockensubstanz- und den Proteingehalt. Sie können sofort nachjustieren. Als die Spezialistin für Futtermittelsoftware Miriam Suhren in einem Webinar davon erfuhr, war sie überrascht: „Ich dachte, entweder das ist Mist oder die Zukunft.“ Sie informierte sich – und bewarb sich prompt bei Trinamix. Heute entwickelt sie die Einsatzoptionen weiter, oft zusammen mit der Kundschaft aus Agrarbetrieben und Laboren. Plastikrecycling: Hochwertiges Kunststoffrecycling hängt von der Sortentrennung ab. In Deutschland setzen Recyclingbetriebe automatische Anlagen ein, die die Plastikartikel erkennen und auftrennen. In anderen Teilen der Welt geschieht dies oft zunächst manuell. In beiden Fällen verbessern die mobilen Spektrometer den Material- und Qualitätscheck: Das Gerät erkennt mehr als 30 Plastiksorten. Es lässt sich in vielen Arbeitsschritten verwenden, vom Wareneingang bis zur Prüfung der erzeugten Kunststoffflocken, aus denen wiederum Rezyklate entstehen. Gesichtsauthentifizierung: Mit der Technologie von Trinamix ist der sogenannte Liveness-Check möglich: Sie identifiziert die Handynutzer nicht nur anhand des Aussehens, sondern prüft auch, ob es sich um einen echten, lebendigen Menschen handelt. Das System kann nicht mit Mobile Nah-Infrarot-Spektroskopie: Was ist das? Infrarotstrahlung ist ein unsichtbarer Teil der optischen Strahlung. Die natürliche Hauptquelle ist die Sonne. Infrarotstrahlung hat unterschiedliche Wellenlängen. Die Spanne von circa 1.000 bis 3.000 Nanometern nennt man Nah-Infrarotbereich (NIR). Die NIRSpektroskopie macht sich zunutze, dass die Infrarotstrahlung Moleküle in organischen Verbindungen anregt. Dies können Kunststoffe, Textilien oder Lebens- und Futtermittel sein. Sie reflektieren die Strahlung auf sehr spezifische Weise. Gleicht man diesen materialtypischen oder im Fall von Haut individuellen „Fingerabdruck“ der Probe mit einem hinterlegten Referenzwert ab, lassen sich Substanzen und ihre Qualitätsmerkmale bestimmen beziehungsweise Individuen sicher wiedererkennen. Das Herzstück der Trinamix-NIR-Spektroskopie-Geräte sind winzige und doch robuste, hauchdünn verkapselte Infrarotsensoren, die das Unternehmen in Ludwigshafen selbst herstellt. Der Hauptgrund dafür: Nirgends sonst wurden Sensoren mit diesen Eigenschaften produziert. Ultraklein und -leicht, sind sie für den Einsatz in mobilen Geräten geeignet. Das ermöglicht Anwendungen in vielen Bereichen. Dazu zählen die Kreislaufwirtschaft, Branddetektion, Futtermittelqualitätssicherung sowie Fitness und Gesundheit. W I S S E N „Ich dachte, entweder das ist Mist oder die Zukunft“ M I R I A M S U H R E N , V E R T R I E B S S P E Z I A L I S T I N 18 J E T Z T O D E R N I E ! I N N O V A T I O N E N

I N T E R V I E W Fotos oder Masken getäuscht werden. Ab 2024 wird die Technologie in Handys auf den Markt kommen. Es gibt sie zudem als Zugangstool für Autos und Gebäude. Das Start-up ist noch immer auf demWeg Auch im Bereich Beauty, Fitness und Gesundheit kann die Trinamix-Technologie das Leben leichter machen. Daran arbeitet unter anderem der Softwareingenieur Vivek Manjunath. Was ihn besonders fasziniert: das Zusammenspiel aus winziger Hardware für Smartphones und der dazugehörigen Software. Damit will Trinamix künftig die Bestimmung von persönlichen Biomarkern in Echtzeit erlauben. Vivek Manjunath ist seit gut einem Jahr bei Trinamix. „Wenn ich zurückblicke, ist in dieser Zeit so viel passiert“, sagt er. „Mir gefällt die Dynamik und dass wir Dinge schnell fertig bekommen. Ganz schön herausfordernd, aber super.“ 3 Fragen an Ingmar Bruder Was macht einen innovativen Menschen aus? Mit offenen Augen durch das Leben gehen, nichts als gegeben hinnehmen, auch Selbstverständlichkeiten hinterfragen und hartnäckig sein. Wie ist Ihre Erfahrung als neugieriger Physiker? Vor vielen Jahren habe ich als Laborteamleiter bei der BASF angefangen. Dort habe ich festgestellt, dass die Messtechnik nicht tat, was sie sollte, und nach vielem Ausprobieren entdeckt, dass eine Systematik da drinsteckt. Und zwar eine, aus der man Produkte und Anwendungen entwickeln kann, für die Interessierte Geld zahlen. Manchmal war es ein harter Kampf, andere zu überzeugen, in etwas völlig Neues zu investieren. Hardwareentwicklung ist sehr teuer. Heute bin ich stolz darauf, dass die BASF als Konzernmutter und wir als Start-up es zusammen geschafft haben. Wo steht Trinamix jetzt, und was passiert als Nächstes? Aus der Anfangsidee ist eine Firma mit 240 Mitarbeitenden und 550 Patenten und Patentanmeldungen geworden. Wir erwarten, mit den meisten unserer Produktfamilien in Kürze profitabel zu arbeiten. Und wir wachsen weiter. Unsere Technologie ist optimal für Smartphoneanwendungen geeignet. Dies eröffnet ein besonders großes Geschäftsfeld. V I V E K M A N J U N A T H , S O F T W A R E I N G E N I E U R „Mir gefällt die Dynamik und dass wir Dinge schnell fertig bekommen“ e i n s 2 0 2 3 19 F I R M E N - B E S U C H : T R I N A M I X

Von Biotechnologie bis Big Data Ein Eldorado für IT-Spezialisten In Rheinland-Pfalz gibt es vier Technologie- und Gründerzentren. Sie helfen Jungunternehmern dabei, Geschäftsideen voranzutreiben – von Pflegeprodukten aus Bienengift bis hin zu digitalen Escape-Rooms Im nördlichen Rheinland-Pfalz findet man das Technologiezentrum Koblenz. Hier ist alles auf IT-Dienstleistungen ausgerichtet, es besteht eine jahrelange Kooperation mit der mehrmals prämierten Gründer-Universität Koblenz-Landau. Die hat sich deutschlandweit einen Namen gemacht, da sie Konzepte zur Unterstützung von Start-ups entwickelt. Um Digitalisierung geht es auch bei Sdui. Das junge Unternehmen hat eine ambitionierte Mission: Es will die Digitalisierung an Kitas und Schulen voranbringen. Eine App soll die Kommunikation managen und „einen fliegenden Wechsel zwischen Präsenz- und Fernunterricht ermöglichen“, so die Gründer. Man kann Stunden- und Vertretungspläne einsehen, die App meldet sich bei Neuigkeiten von alleine. Dazu kommen Datenschutz und nützliche Funktionen, etwa Elternbriefe an ausgewählte Gruppen digital zu versenden. Doderm möchte hingegen den Verbrauch von Antibiotika in der Therapie von Mensch und Tier maßgeblich senken. Dazu machten die Humanbiologin Beatrix Förster und der Prozessingenieur Hans-Jürgen Heidebrecht natürlich vorkommende Antikörper der Kuhmilch für die human- und tiermedizinische Hautversorgung verfügbar. Hautsalben für Pferd, Hund und Katze gibt es bereits. Im europäischenWirtschaftszentrum Rhein-Main liegt in der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz das „Technologiezentrum Mainz“ (TZM) mit einem Schwerpunkt in Biotechnologie und Lebenswissenschaften (LifeScience). „Durch das TZM bin ich Teil der Gründerszene und mein Start-up wurde sichtbar“, sagt zum Beispiel Cornelius Donige, Gründer von Lenzbox. Er bietet eine raffinierte Kontaktlinsen-Box an: Linsen einlegen. Pflegen lassen, sicher verwahren. Auf Knopfdruck werden Verunreinigungen beseitigt. Auch Big Data Analysis (BD-A) ist hier beheimatet. Das Geschäftsmodell des Start-ups: Kosten sparen mit mathematischen Modellen und Erkenntnisse aus Unternehmensdaten gewinnen. „Heben Sie mit uns Ihren Datenschatz“, fordert Gründer Klaus Schlitt mögliche Kunden auf. Der Standort im TZM gefällt ihm: „Das Community-Management und große Netzwerk bieten uns jederzeit die Möglichkeit, in aktivem Kontakt zur Gründerszene zu stehen und mit anderen Unternehmen zu kooperieren.“ Im Technologiezentrum angesiedelt ist auch der „Schnäppchenfinder“ LollipApp: „Mit CheapCharts kaufst du bei iTunes deine Lieblingsmedien zum günstigsten Preis“, werben die Gründer. M A I N Z K O B L E N Z Wo Erfinderherzen schlagen T E X T S A B I N E L A T O R R E 20 J E T Z T O D E R N I E ! N E U E G E S C H Ä F T S I D E E N

Bienengift und Impftermin per App Von Rätselräumen und Forschungschemikalien Informations- und Kommunikationstechnologie, Automatisierung und Maschinenbau: Darum dreht sich alles im Business + Innovation Center Kaiserslautern. Hier geht es zum Beispiel um unvergessliche Abenteuer, geschaffen vom Jungunternehmen ARSCOM: „Bei uns erwarten euch einzigartige Rätselräume, auch bekannt als Escape-Rooms, die jedes Teammitglied fordern und begeistern werden“, werben die Schöpfer. Wer schafft es, den digitalen Raum in 60 Minuten zu bewältigen? „Unsere Rätsel sind nicht von der Stange und können auch erfahrene Spieler überraschen“, so die Entwickler. Software für die Energiewende entwickelt myPowerGrid: Das clevere Gründerteam kombiniert dazu dezentrale Speichertechnologie zu einem virtuellen Großspeicher. Das weltgrößte Chemieunternehmen BASF hat seinen Stammsitz in Ludwigshafen. Und greift Neulingen gerne unter die Arme – besonders, wenn sie sich mit IT oder chemienahen Themen beschäftigen. Beides geschieht in einem gemeinsamen Projekt mit dem erfahrenen Konzern. Großen Erfolg mit seinem Geschäftsmodell „Mit der App zum Impftermin“ Für alle, die Forschungschemikalien benötigen – wie pharmazeutische Unternehmen, Universitäten, Biotech-Firmen, Unternehmen des Gesundheitswesens oder Auftragsforschungsinstitute – ist hingegen BLDpharm interessant: Der Lieferant und Hersteller hat eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Schanghai. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung und Produktion von Heterocyclen, Boronsäuren, Aminosäuren, Metallkatalysatoren und chiralen Verbindungen. hatte zum Beispiel das Startup InnoWave. Es entwickelte während der Pandemie eine kostenlose Impf-Finder-App: Die bringt Impfwillige und verfügbare Impfdosen schnell zusammen. Auch spannend: Pflegeprodukte aus Bienengift, entwickelt von Bee Joyous. Bienengift zu sammeln, ist kniffelig: Ein einzelner Stich enthält nur sehr wenig Gift (0,1 Milligramm). Das Problem löste das Start-up so: „Die weiblichen Bienen werden gemolken, ohne dass sie ihr Leben lassen müssen. Ein leichter Strom fließt durch Sammelplatten, die vor dem Bienenstock platziert werden. Sie lösen das Stechen der Arbeiterinnen aus.“ Die winzigen Gifttröpfchen trocknen rasch an der Luft und können gesammelt werden. Bee Joyous ist eine Marke des Forschungsunternehmens BioGenom: Hier wird das Bienengift im eigenen Labor mit einer eigenen Methode fraktioniert. Daraus entstehen Wirkstoff-Peptide von hoher Reinheit. L U D W I G S H A F E N K A I S E R S L A U T E R N Das Land betreibt vier Gründungszentren. Sie sind optimale Standorte für Existenzgründer. Diese können Büro-, Labor- und Konferenzräume nutzen und sich beraten lassen. Zudem bekommen sie die Möglichkeit, mit anderen Unternehmen zu kooperieren und sich zu vernetzen. Gründerzentren Blick in die Glaskugel: Welche Ideen sind die Innovationen von morgen? 21 G R Ü N D E R Z E N T R E N Foto: Manuel Eliasz via Getty Images

T E X T S A B I N E L A T O R R E Sie geben viel Strom und wiegen wenig: Lithium-Batterien. Ihr Schlüsselelement ist weltweit begehrt. Lithium ist etwa für die Automobil- und Elektronikindustrie sehr wichtig. Denn das leichteste Metall der Erde kann auf wenig Platz viel Energie speichern. Seine hohe Energiedichte machen sich moderne Lithium-Ionen-Akkus zunutze: Sie sind leicht, wiederaufladbar und liefern über lange Jahre eine konstante Leistung. Längst erfordert die Elektrifizierung mit ihren E-Bikes, E-Autos, E-Bussen, E-Lkws, E-Baumaschinen und sogar E-Schiffen das Lithium in Massen. Zusätzlich zum Mobilitätsbereich treiben Stromspeicher in Wind- und Solarparks die Nachfrage weiter an. Denn Lithium ist das lebenspendende Herz der Produkte: Ohne das Element würde ihnen jede Energie fehlen. Experten schätzen, dass sich der aktuelle globale Bedarf an Lithium bis 2028 etwa verzehnfacht. Laut Berechnungen steigt der Bedarf allein zur Herstellung von Batterien von aktuell 61.000 Tonnen Lithium auf 1.570.000 Tonnen im Jahr 2028. Der Treibstoff der Zukunft kommt jetzt auch aus Geothermie- Anlagen im Oberrheingraben. Hier leben die Menschen auf einem Schatz – der tief in der Erde ruht: eines der weltweit größten Lithium-Vorkommen, gelöst im Thermalwasser unterirdischer Reservoire. Um es zu gewinnen, braucht man Experten wie das deutsch-australische Unternehmen Vulcan Energie Ressourcen aus Karlsruhe: „Im Oberrheingraben werden wir weltweit erstmals Lithium klimaneutral für die europäische Batterieherstellung gewinnen und gleichzeitig erneuerbare Energie bereitstellen“, erklärt Geschäftsführer Horst Kreuter. Im südpfälzischen Insheim steht bereits ein Geothermiekraftwerk: Hier wird mithilfe von Tiefengeothermie Lithium gewonnen und erneuerbare Energie produziert. Das eingesetzte Verfahren (direkte Lithiumextraktion) sei „seit Jahrzehnten erprobt“ und wurde an das Thermalwasser der Region angepasst. Kreuter: „Wir wissen: Unser Verfahren funktioniert.“ Und zwar so: Man pumpt das heiße Wasser aus dem Boden und nutzt es als Geothermie für den Betrieb der Anlage und als Nahwärme für Häuser. Bevor das Wasser wieder in den Boden gepumpt wird, presst man es durch eine Membran. Darin bleiben die Lithiumionen hängen wie in einem Kaffeefilter. Der mittlere Lithiumgehalt der tiefen Reservoire beträgt laut Unternehmen 180 Milliliter pro Liter Wasser. „Insgesamt könnte man mit dem Verfahren schon 95 Prozent des vorhandenen Lithiums herausfiltern“, sagt Kreuter. Die kommerzielle Produktion ist für 2024 geplant. Nun möchten auch die Stadtwerke Speyer und Schifferstadt möglichst schnell grüne Erdwärme in Haushalte liefern – und gleichzeitig das begehrte Element gewinnen. In Bad Dürkheim gab es auch grünes Licht für das Vorhaben. Das Herz der Elektrifizierung Ein Element hat ein neues Zeitalter eingeläutet: Lithium. Der Rohstoff ist essenziell für die Herstellung von Akkus für Smartphones, Laptops oder E-Autos – und ermöglicht die Energiewende R O H S T O F F Lithium, ein silberweißes Leichtmetall, zählt nicht zu den seltenen Erden. Es kommt häufig auf der Erde vor – in niedrigen Konzentrationen. Was genau ist Lithium? G E W I N N U N G Wozu brauchen wir Lithium? E-Auto: Ohne Lithium geht es nicht. 22 J E T Z T O D E R N I E ! L I T H I U M Foto: Henri Koskinen – stock.adobe.com Foto: elektronik-zeit – stock.adobe.com

Weltweit größter Produzent von Lithium ist derzeit Australien mit jährlich rund 40.000 Tonnen, große Mengen kommen auch aus Chile, China und Argentinien. Trotz des steigenden Abbaus wird Lithium wohl vorerst nicht knapp. Experten schätzen die ökonomisch verwertbaren Reserven auf 14 Millionen Tonnen. Insgesamt ließen sich Ressourcen von rund 62 Millionen Tonnen nachweisen. Am Recycling von Lithium arbeiten Wissenschaftler mit Hochdruck. Ein Weg ist die Wiederverwertung aus alten Batterien. Damit befasst sich etwa die BASF: Im Juni dieses Jahres eröffnete das Unternehmen zusammen mit Partnern Europas erstes gemeinsames Zentrum für Batteriematerialproduktion und Batterierecycling in Schwarzheide. Keine einfache Sache, denn für Lithium bestehen sehr hohe Reinheitsanforderungen bei der erneuten Verwendung in Batterien. Wie viel Lithium gibt es auf der Erde? Lithiumwiederverwerten? Die Lithium-Vorkommen befinden sich in den entlegensten Ecken der Welt: Die größten Mengen – rund 50 Prozent – kommen aus Australien. Hier steckt das Metall in Gesteinen und wird überirdisch im Tagebau gefördert. In Lateinamerika lagert die andere Hälfte des begehrten Metalls. Die riesigen Vorkommen finden sich zum Beispiel in den Salzseen Salar de Uyuni in Bolivien oder Salar de Atacama in Chile. Hier ist es schon kniffliger: Lithium-Ionen sind vor Ort imWasser gelöst und lagern zwei Kilometer unter der Erde in der Wüste, einer der trockensten Regionen der Erde. Doch nun haben Wissenschaftler einen neuen Weg entdeckt, um Lithium auch bei uns im Oberrheingraben abzubauen – umweltfreundlich und kostengünstig (siehe „Gewinnung“). H E R K U N F T Lithium: Weltweit imEinsatz Angaben in Prozent Quelle: U.S. Geological Survey, Mineral Commodity Summaries, Januar 2022 Keramik und Glas Schmierstoffe Metallpulver (Gussindustrie) Polymere Luftaufbereitung Andere Anwendungen Batterien 74 14 3 4 2 2 1 V E R W E N D U N G V O R R A T Abbau: Lithium steckt zum Beispiel in Gesteinen oder lagert in Salzseen. R E C Y C L I N G e i n s 2 0 2 3 23 D A S E L E M E N T Foto: Vulcan Energie/Deck Foto: max dallocco – stock.adobe.com

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